Wenn ich Freunde auf das Gewinnspiel zur isländischen Literatur anspreche, sagen viele: ja, ich würde ja gern! Aber die Zeit!! Wann soll ich denn das alles …??? Dabei ist die isländische Literatur ideal, auch für vielbeschäftigte Wenigleser – denn die isländischen Autoren halten sich meist kurz und produzieren dünne Bücher. Das meint zumindest ein Literaturexperte, der es wissen muss: Thomas Böhm. Er leitet für “Sagenhaftes Island” das Literaturprogramm und war über ein Jahrzehnt lang Leiter des Kölner Literaturhauses:
Vom unzweifelhaften Vergnügen kurze isländische Bücher zu lesen
Von Thomas Böhm
Im Kino schaut man sich an einem Abend einen ganzen Film an. Im Theater ein ganzes Stück. Im Konzerthaus hört man eine ganze Symphonie.
Warum aber gibt es so wenig Bücher, die man an einem Abend ganz lesen kann? An einem idealen Leseabend… Hinsetzen, wenn Ruhe eingekehrt ist, mit einem Buch, dasmit einer schnell zugänglichen, faszinierenden Geschichte von der ersten Seite an fesselt. Ein Buch, das von lebensnahen und doch poetisch leuchtenden Ereignissen erzählt, von gewöhnlich-ungewöhnlichen Menschen. Und nach drei Stunden, vielleicht einem Glas Wein oder einem Espresso, ist das Buch zu Ende gelesen, denn es umfasst nur 150 Seiten, hinterlässt aber den Eindruck einer langen, intensiven Lektüre.
Solche Bücher, in denen eine Geschichte nahezu wie in einem Atemzug erzählt wird, findet man in der isländischen Literatur sehr oft. Befragt man aber isländische AutorInnen nach dieser Erzählkunst, zucken sie mit den Schultern, denn sie ist ihnen so selbstverständlich wie ihre Muttersprache.
Vier Spekulationen über die isländische Kunst der Kürze
Woher kommt also die Kunst des kurzen aber trotzdem alles enthaltenden Buches in Island? Man kann nur spekulieren:
I. Vielleicht finden sich die Wurzeln in den Anfangszeiten der Literatur auf Island, als die Sagas – die Geschichten von den ersten Siedlern und ihren Familien – noch nicht aufgeschrieben waren, sondern mündlich weitererzählt wurden. Mündliches Erzählen ist in der Regel konzentrierter als schriftliches, beschränkt sich auf wenige Erzählstränge, kann nicht so lange dauern. Der Konzentration der Zuhörer sind eben Grenzen gesetzt.
II. Die Isländer haben nie einen nennenswerten Philosophen hervorgebracht. Ihre Philosophie ist die Literatur, die – wie wir dank der postmodernen Philosophie wissen – sowieso die avancierteste Form der Philosophie ist. Anders gesagt: Die Isländer vertrauen auf die „Aussagekraft“ einer Geschichte. Sie braucht keinen philosophischen „Überbau“, keine theoretischen Passagen, etc. Kurz: Eine Geschichte braucht nur gut zu sein. Das reicht.
III. Auf Island herrschte Jahrhunderte lang ein Mangel an Rohstoffen. Das Material, auf dem geschrieben wurde, war selten und teuer: Pergament. Man musste also auch beim Aufschreiben sehr auf die Knappheit des Erzählens achten.
IV. Eine Schule der Verknappung und Verdichtung der Isländer war die Poesie, die mittelalterliche Skaldendichtung. In den Gedichten der Skalden finden sich die sogenannten Kenningar, das sind extrem verdichtete Bilder, in denen ganze mythologische Geschichten in einem einzigen Ausdruck auftauchen. Wenn zum Beispiel von Gold gesprochen wird, aber nicht das Wort „Gold“ sondern das Wort „Otternbuße“ verwendet wird. „Otternbuße“ steht für Gold, weil die Götter Odin, Thor und Loki eines Tages, als sie im Wald ein Otter töteten, diesen Mord büßen mussten, indem sie dessen Körper ganz und gar mit Gold bedeckten. Die Geschichte, die sich daraus entspinnt, ist übrigens die Grundlage des „Ring der Nibelungen“.
Spekulationen beiseite….
Sie sehen schon: Das Erzählen in Island ist über eintausend Jahre alt und seinerseits begleitet von Geschichten über das Erzählen und Schreiben. Und weil die Isländer schon von Anfang an in Isländisch geschrieben haben, das sich bis heute wenig verändert hat, können wir einfach sagen: man merkt den isländischen Texten an, dass die Erzählkunst darin seit eintausend Jahren praktiziert wird.
Deshalb können sie so meisterhafte, schöne kurze Bücher schreiben – für einen perfekten Leseabend, als leicht mitzuführende Reiselektüre, als leicht zusammenzustellende große kleine Bibliothek.
PS: Die dickeren isländischen Bücher sind natürlich so gut erzählt, dass man sie ebenfalls problemlos an einem Abend lesen kann. Man muss dann nur länger aufbleiben.
Also: wer jetzt Lust bekommen hat auf die dünnen, gehaltvollen isländischen Bücher, der kann sich mit einer Rezension versuchen an – zum Beispiel – Gyrðir Elíassons ”Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft”. Diese Rezension dann einfach in einem Blog oder auf Facebook posten. Wer die meisten Leser-Reaktionen damit erzeugt (Kommentare, “Likes” oder ähnliches), gewinnt. Mehr dazu bei “Blogg Dein Buch“